Gesellschaft fordert Wissenschaft

Den meisten Menschen sind der Nutzen der Wissenschaft und der Beitrag, den sie für die Welt hat, nicht bewusst. Wer hat schon Lust sich mit einem unendlichen Pool an Themen tiefgründig zu beschäftigen, wenn es doch im Leben schon genügend Probleme und Rätsel gibt? Dabei ist die Wissenschaft allgegenwärtig, sie ist um und für uns. Ohne sie ist ein Leben kaum noch denkbar. Doch was bedeutet Wissenschaft eigentlich?

Die Wissenschaft ist das Medium, welches die Erkenntnisse, Lehren und Geschehnisse der Vergangenheit in einen Kontext bringt und dem Ganzen einen Sinn verleiht. Das heißt, erst durch sie können wir aus vergangenen Fehlern lernen und uns weiterentwickeln.

Die NISIBIN hat den Bedarf und die Bedeutung der Wissenschaft für unsere Gemeinschaft entdeckt und es sich deshalb zur Aufgabe gemacht diese zu fördern und zu stärken. Mit der Flucht in die Diaspora haben wir einen Ort gefunden, an dem uns kein physischer Schaden mehr zugefügt werden kann. Jedoch sind neue Probleme und Herausforderungen hinzugekommen, die die nachfolgenden Generationen nun bewältigen müssen. Sie tragen die schwere Last zwischen zwei Kulturen aufzuwachsen, und als wäre der Weg zu seinem eigenen Ich nicht ohnehin ein schwieriges Thema, hat sie nun die Bürde die Identität ihres Volkes zu bewahren und zukünftig weiterzuvermitteln. Es stellt sich die Frage, wie man unsere Diasporagemeinschaft in der Moderne am Leben erhalten kann.

Die NISIBIN antwortet hierauf mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit kulturellen, historischen, soziologischen und künstlerischen Aspekten unseres Volkes. Gemäß dieser Zielsetzung hat sie die notwendigen Bedingungen hierfür geschaffen. Mit einer Stiftung für Aramäische Studien, die diese Initiative trägt und einem Verein zur Förderung des Instituts für Aramäische Studien, der operativ unterstützt, ist am Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum ein Schwerpunkt für Aramäische Studien entstanden. Die strukturellen Voraussetzungen sich mit der Geschichte unseres Volkes und seinen Traditionen wissenschaftlich auseinanderzusetzen, um sie für unsere Gegenwart und Zukunft neu zu interpretieren, sind somit geschaffen.

Dieses Haus der Wissenschaft kann nicht aufgebaut werden und diese Idee nicht gänzlich verwirklicht werden, wenn sich nicht Abiturienten, Studenten und Akademiker der Wissenschaft über unsere Gemeinschaft annehmen. So veranstaltet der Nisibin-Förderverein jährlich den Šahro d’Nsibin und bietet den Teilnehmern ein Forum, die NISIBIN kennenzulernen und bei Interesse mitzuwirken. Dieses Jahr fand dieses Event am 25. und 26. Juni im syrisch-orthodoxen Kloster St. Jakob von Sarug in Warburg statt.

Das Programm eröffnete Professor Josef Rist einem Vortag über die besondere Auslebung des Mönchtums durch den heiligen „Mor Šamcun d’Stune“, also den Styliten (Säulenheiligen), und bot einen Einblick in die Wissenschaft unserer Religion. Oft werden Wissenschaft und Religion als Gegensätze gesehen, in Wirklichkeit stehen jedoch auch sie in einer Wechselwirkung: „Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind“ (Albert Einstein). So kann die Wissenschaft dem Verständnis über die Auslebung und die Wichtigkeit unseres Glaubens für unser Volk früher und heute dienen.

Anschließend berichtete Fehmi Aykurt über seine Erfahrungen als Mitarbeiter im Verbund für Interkulturelle Kommunikation und Bildung in Hamburg. Er beschäftigt sich täglich mit dem Leben der traditionellen Migrantengemeinschaften in der deutschen Gesellschaft.

Der zweite Vorsitzende des Nisibin-Fördervereins, Paulus Gelen, stellte die Idee der NISIBIN und die damit verbundenen Motivationen und Ziele vor. Er erläuterte, dass die existentiellen Fragen unserer Gemeinschaft nur von einem wissenschaftlichen, interdisziplinären Institut für Aramäische Studien beantwortet werden können. Dieses Institut kann das Wissen schaffen, das unsere kirchlichen, politischen und sozialen Institutionen benötigen, um unsere Gesellschaft in der Diaspora zu führen, zu vertreten und zu tragen. Des Weiteren forderte er, den Zugang zur freien Bildung zu nutzen, der uns jahrhundertelang verwehrt wurde und der so wichtig ist, um unsere Gemeinschaft voranzubringen. Dabei betonte er, dass nicht nur Wissenschaftler, sondern jeder ein Teil der NISIBIN werden kann. Die ideelle Unterstützung als Mitglied im Förderverein oder eine Spende sind ebenso wichtig wie die aktive Unterstützung der NISIBIN als Helfer im operativen Bereich. So wird nicht nur um Geisteswissenschaftler geworben, sondern auch um ehrenamtliche Helfer, die sich mit ihren Ideen und ihrem Engagement einbringen wollen.

Am Abend der Veranstaltung wurde eines der Ergebnisse der finanziell geförderten Projekte der NISIBIN vorgeführt. Der Dokumentarfilm „Kein Platz dazwischen“ von Daniel Yanik und Simon Schulz beschäftigt sich mit der Konfliktsituation der Aramäer im Tur Abdin, welche zwischen den Türken und Kurden aufgerieben wurde. Gleichzeitig kann man auch eine Parallele zu den heutigen Problemen der neuen Generationen zwischen der Diaspora und der Heimat sehen. Der Film war für die meisten Anwesenden das Highlight des Events, da es eine große Sympathie und Identifikation mit dem Protagonisten herstellt. Ein jugendlicher Aramäer berichtet von seinem ersten Besuch in der Heimat seiner Eltern. Dabei spielen unterschiedliche Emotionen, wie Verunsicherung, Skepsis und Trauer, aber auch Neugierde, Aufregung und Freude, eine Rolle. Dies entfachte einen Erfahrungsaustausch unter den Anwesenden und verdeutlichte, wie ähnlich doch die Erlebnisse und Erfahrungen und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle sind.

Insgesamt war der Šahro mit einer Teilnehmerzahl von rund 70 Personen gut besucht und bot mit der Übernachtung und dem Austausch in einer harmonischen Runde die Möglichkeit neue Kontakte zu knüpfen, die sowohl eine private als auch eine zukünftig berufliche Bereicherung darstellen. So wird die NISIBIN weiterhin ihre Funktion „Wissen zu schaffen“ verfolgen und damit unserem Volk hoffentlich neue Perspektiven bieten.